Thematische Fokussierung der Autor:innen
Im vorherigen Abschnitt wurde beschrieben, wie Länder und Kulturen anhand der Kriterien „entwickelt“ und „unterentwickelt“ homogenisiert und hierarchisiert werden. In den nächsten beiden Abschnitten werden wir nun einen genaueren Blick in Geographieschulbücher werfen, um zu erkennen, wie auf dieser Basis hierarchische Verhältnisse implizit oder sogar explizit suggeriert werden.
Defizitorientierung
Die gefühlte Überlegenheit der sogenannten „Industrieländer“ wird insbesondere dadurch suggeriert, dass es kaum positive Berichte über Länder des „Globalen Südens“ gibt und Schüler:innen daher vor allem negative Attribute mit den sogenannten „Entwicklungsländern“ verknüpfen. Die meist fehlende Ausdifferenzierung von Problemdarstellungen und der Mangel an Positivbeispielen lässt die „Entwicklungsländer“ nahezu uneingeschränkt in schlechtem Licht dastehen.
Die zumeist passive Darstellung der Akteur:innen in „Entwicklungsländern“ verstärkt diesen Eindruck zusätzlich, da „Entwicklungsländer“ und ihre
Bewohner:innen auf diese Weise als Opfer vermeintlich unveränderlicher Umstände dargestellt werden und „Industrieländern“ als „fortgeschritteneren“ Gesellschaften die Rolle der mitfühlenden und wohlwollenden Entwicklungshelfer zukommt. „Entwicklungsländern“ wird so Handlungsfähigkeit und die Möglichkeit „Fortschritt“ eigenständig voranzutreiben abgesprochen und eine Abhängigkeit gegenüber „Industrieländern“ bezüglich der Hilfestellung bei Entwicklungsambitionen suggeriert.
Äußern tut sich diese entwicklungspolitische Abhängigkeit vom „Globalen Norden“ und Handlungsunfähigkeit der Länder des „Globalen Südens“ in Formulierungen wie den Folgenden.
Reflexionsaufgabe
Denke zurück an deine Schulzeit. Erinnerst du dich an Berichte, die „positive“ Phänomene in „Entwicklungsländern“ beschreiben bzw. an defizitäre Darstellungen über Länder des „Globalen Nordens“?
Gefühlte Überlegenheit
Wenn „Entwicklungsländer“ überwiegend mit Problemdarstellungen negativ konnotiert werden, wirft dies, bei gleichzeitigem Fehlen solcher Berichte, automatisch ein gutes Licht auf „Industrieländer“. Die Definition des Anderen beschreibt zugleich auch das Eigene.
In Schulbüchern sind Beschreibungen von „Entwicklungsländern“ meist defizitär ausgerichtet, der „Globale Süden“ wird als Opfer von Problemen dargestellt. „Wir“, als Menschen in „Industrieländern“, lesen in der Schule diese Berichte (die den Eindruck einer ganzheitlichen Darstellung erwecken können) und können auf dieser Basis die Gründe für jene Umstände erkennen und Vorschläge zur Verbesserung der Lage aussprechen.
Es ist auffällig, dass Beurteilungs- bzw. Bewertungsaufgaben und Aufgabenstellungen, die zur Formulierung von Handlungsempfehlungen auffordern, überwiegend in Kapiteln über „Entwicklungsländer“ auftauchen. Während im „Globalen Norden“ Probleme als Herausforderungen dargestellt werden, werden bei Problemdarstellungen im „Globalen Süden“ Gründe und Auswege stets benannt. Diese Darstellungsweise kann ein Gefühl der Überlegenheit bewirken, ganz nach dem Motto: Ich bin ein:e Schüler:in aus einem Industrieland und weiß es besser und könnte den Menschen dort zeigen, wie es richtig geht.
Spotlight
Ein Ausdruck dieser gefühlten Überlegenheit ist neben der hohen Dichte an Bewertungsaufgaben und Handlungsempfehlungen auch die noch oft in Schulbüchern anzutreffenden Aufrufe zum Sammeln von Spenden und Unterstützen von Hilfsorganisationen, die den Ländern des „Globalen Nordens“ zwar eine Verantwortung zur Verbesserung prekärer Verhältnisse in „Entwicklungsländern“ zuschreiben, gleichzeitig aber auch die Möglichkeit der Eigeninitiative dieser Länder nicht betonen und in der Regel die historische Verantwortung des „Globalen Nordens“ für gegenwärtige Umstände ebenfalls außer Acht lassen. Dieses, in vielen Bereichen anzutreffende Motiv des „Weißen Retters“ (z.B. Filme, Bücher, Werbung etc.), wird auch als White saviorism bezeichnet.