Die Macht der Rhetorik
Teilweise tauchen in Schulbüchern Wertungen nicht nur implizit auf inhaltlicher Ebene, sondern auch explizit auf rhetorischer Ebene auf. So kann es passieren, dass in einem Geographieschulbuch beim Thema demographischer Wandel in China von einer „alternden Gesellschaft“, „der Gefahr einer Überalterung“ und dem zukünftig „größten gesellschaftlichen Problem“ die Rede ist (Flath, M. et al. (2017): 75), während 10 Seiten später der demographische Wandel in Europa als Normalität dargestellt wird („Alle europäischen Staaten befinden sich im demographischen Wandel“) (Flath, M. et al. (2017): 85). Von einer „Überalterung“ wird in diesem Lehrbuch in Bezug auf Europa ebenso wenig gesprochen wie von einer „Gefahr“. Vielmehr nimmt „der Kontinent Europa eine Vorreiterrolle im demographischen Wandel ein“ (Flath, M. et al. (2017): 85).
Auffällig ist ebenso, dass in diesem Kapitel keine Lösungsvorschläge und Handlungsempfehlungen ausgesprochen werden, um der „alternden Gesellschaft“ entgegenzuwirken. Schulbuchkapitel über hohes Bevölkerungswachstum in „Entwicklungsländern“ beinhalten – im Gegensatz dazu – für gewöhnlich eine ganze Reihe von Handlungsempfehlungen zur Reduzierung der Geburtenrate wie z.B. mehr Familienplanung, bessere Bildungschancen, Zugang zu Verhütungsmitteln, Stärkung von Frauenrechten usw., während jene Kapitel über geringes Bevölkerungswachstum Handlungsempfehlungen wie bspw. finanzielle Anreize für Familiengründungen, zuverlässige Kinderbetreuung, Anwerben ausländischer Arbeitskräfte, schnelleren Berufseinstieg usw. außen vor lassen. Das Fehlen solcher Handlungsempfehlungen für Länder des „Globalen Nordens“ kann das Gefühl der Überlegenheit von „Industrieländern“ gegenüber „Schwellen-“ und „Entwicklungsländern“ zusätzlich verstärken.
Wertende Wortwahl
Auf rhetorischer Ebene kann die Wortwahl der Autor:innen viel Einfluss auf die Wahrnehmung einer Thematik haben. Der Begriff „alternde Gesellschaft“ gegenüber „demographischer Wandel“ aus dem vorherigen Beispiel verdeutlicht, wie ein und dieselbe Gegebenheit durch verschiedene Bezeichnungen eine unterschiedliche Wertung impliziert. Im nun folgenden letzten Beispiel kommt die Macht der Wortwahl besonders deutlich zum Ausdruck.
Thema der beiden Kapitel, die verglichen werden, ist die Förderung von Erdöl und Erdgas in der Nordsee bzw. in Russland. Während bei der Beschreibung der Erdgas-/Erdölförderung in Sibirien die Schwierigkeiten bei der Erschließung dieses „unwirtlichen und schwer zugänglichen Gebiet[s]“ (Sümpfe, Seen, Permafrostböden) besonders betont wird (Brameier, U. et al. (2005): 80), wird dieser Aspekt im Lehrbuch derselben Reihe ein Schuljahr früher nicht negativ hervorgehoben. Die Unwirtlichkeit der Nordsee wird, trotz der Erwähnung der zum Teil „meterhohen Wellen“, nicht betont (Brameier, U. et al. (2004): 44).
Es werden nicht wie in Russland die hohen Kosten bei der infrastrukturellen Erschließung hervorgehoben, sondern die Erschließung der Nordsee mit Bohrplattformen, die „Erdöl und Erdgas aus bis zu 3000 m Tiefe unter dem Meeresboden“ fördern können und der Abtransport über „aufwendig im Meer verlegte Pipelines“ als „technische Entwicklung“ gefeiert (Brameier, U. et al. (2004): 44).
Ein und dieselbe Thematik wird unterschiedlich dargestellt und deren Auswirkungen und Begleiterscheinungen darüber hinaus auch unterschiedlich bewertet. Während der russischen Regierung „die Ausbeutung von Erdöl und Erdgas mit aller Macht“ „trotz dieser nachteiligen Verhältnisse“ unterstellt wird (Brameier, U. et al. (2005): 80), wird die Nordsee als „eine der bedeutendsten Förderregionen der Erde“ gepriesen und ihre Bedeutung für eine größere Unabhängigkeit Europas von Importen aus Russland und arabischen Ländern betont (Brameier, U. et al. (2004): 44).
Von einer „Ausbeutung“ ist in der Nordsee nicht die Rede und die Abhängigkeit Europas von Erdöl- und Erdgasimporten wird ausschließlich aus eurozentrischer Perspektive dargestellt. Welche wirtschaftlichen und geopolitischen Vorteile solche Abhängigkeiten für die Förderregionen haben, wird in diesem Schulbuch nicht erwähnt.
Durch die rhetorische Darstellung einer Thematik wird die Wahrnehmung dieser maßgeblich beeinflusst. In der Geographie (in der natürlicherweise über andere Länder gesprochen wird) ist eine besondere Sensibilität bezüglich der Wortwahl wichtig, um eine möglichst objektive und wertfreie Darstellung zu erreichen. Wertende Darstellungen fußen oft auf eurozentrisch geprägten Weltanschauungen. Es ist daher ratsam im Geographieunterricht Perspektivwechsel anzuregen und auch andere Stimmen als ausschließlich europäische Geograph:innen zu Wort kommen zu lassen.
Aufgabe
Schau in Arbeitsblätter oder Schulbücher und „scanne“ die Texte nach wertenden Bezeichnungen und objektiven/neutralen Bezeichnungen.
Gibt es Alternativen zur verwendeten Wortwahl?
Welche Wirkung haben bestimmte Wörter auf dich als Leser:in?